Ich möchte den Begriff der Ernährung aus den Küchen und Speisesälen herausführen und ihn über das rein Körperliche hinaus auf unsere Umgebung und auf den Bereich unserer Sinne ausweiten. Gestern sprach die Hauptrednerin Jasmin Peschke über die Bedeutung unserer Verbindung zu uns selbst, zu anderen Menschen und zu unserer Umgebung. Ich möchte daran anknüpfen und einladen, darüber nachzudenken, wie eine lebendige Beziehung zur Umgebung, das Eintauchen in die Landschaft, das Verwurzeltsein im Boden und die aktive Teilnahme an seiner Pflege uns selbst und unsere Schüler:innen nähren und wachsen lassen können. Eine solche Verbindung kann uns ein tieferes Gefühl von Zugehörigkeit und von Werden vermitteln und uns helfen, dieses Gefühl in unserem Leben zu verkörpern.
Beginnen wir bei der Wissenschaft. Moderne Forschung zeigt, dass der Kontakt mit der Natur die sensorische Verarbeitung im Gehirn neu ausrichten kann. Dadurch können sowohl die kognitiven Fähigkeiten als auch das emotionale Wohlbefinden gestärkt werden. Studien, die mit EEGs[1][2][3][4][5] und anderen Messmethoden die Gehirnaktivität während des Aufenthalts in der Natur untersucht haben, beschreiben rhythmische Muster, die mit verbesserter Aufmerksamkeit, erhöhter funktioneller Vernetzung und einer veränderten sensorischen Verarbeitung einhergehen. Im Alltag bedeutet dies bessere Konzentration, mehr geistige Flexibilität und gesteigerte Kreativität.
Andere Untersuchungen mit funktioneller Bildgebung des Gehirns zeigen, dass bereits eine Stunde in einer natürlichen Umgebung die Aktivität der Amygdala reduzieren kann.[6] Die Amygdala ist jene Struktur, die für die Verarbeitung von Emotionen – besonders von Angst und Bedrohungsgefühlen – verantwortlich ist. Sie steuert unsere Kampf-, Flucht- und Erstarrungsreaktionen. Nach traumatischen Erfahrungen, wie sie viele unserer Schüler:innen erlebt haben, kann die Amygdala überaktiv werden. Dies führt häufig zu Angstzuständen oder Depressionen und ist ein Merkmal der posttraumatischen Belastungsstörung. Eine überaktive Amygdala beeinträchtigt außerdem den präfrontalen Kortex, der für Gedächtnis, Planung, Konzentration, Impulskontrolle und Emotionsregulation wichtig ist. Ähnliche Störungen finden sich bei ADHS, das ebenfalls mit einer veränderten Verbindung zwischen Amygdala und präfrontalem Kortex zusammenhängt.
Die Natur bietet Möglichkeiten, diesen Belastungen entgegenzuwirken. Das Leben und Arbeiten auf dem Land wirkt wie Medizin und wie Nahrung für die Fähigkeit zur Selbstregulierung. Es erleichtert die Teilnahme an alltäglichen Aktivitäten und am Gemeinschaftsleben – wichtige Schritte auf dem Weg der Heilung von Ausgrenzung und sozialer Isolation. Obwohl aktuelle wissenschaftliche Studien diese Wirkung bestätigen, ist die Idee der Natur als Heilmittel keineswegs neu. Schon im Mittelalter gehörten Ruhe, gesunde Ernährung und die Arbeit im Klostergarten zur sogenannten Klosterkur. Der britische Gesundheitsdienst verschreibt seit 2022 ausdrücklich Aufenthalte in der Natur als Unterstützung für die körperliche und seelische Gesundheit. Auch in Japan wurde in den 1980er- und 1990er-Jahren erforscht, wie sich Aufenthalte im Wald auswirken.[7] Daraus entwickelte sich das Konzept des Shinrin-yoku, des Waldbadens, das zu einem nationalen Gesundheitsprogramm wurde, nachdem nachweisbare Veränderungen im Stresshormonhaushalt gemessen wurden. Diese Forschung zeigt eine Reihe gesundheitlicher Vorteile: die Reduktion von Stress, eine verbesserte Stimmung, ein stärkeres Immunsystem, niedrigeren Blutdruck, besseren Schlaf sowie gesteigerte Konzentration und Gedächtnisleistung. Schon eine halbe Stunde Natur pro Woche kann hilfreich sein; zwei Stunden wirken sich durchweg positiv auf Gesundheit und Wohlbefinden aus.
So wie Nährstoffe, die wir über den Mund aufnehmen, uns stärken, schwächen oder heilen können, nehmen wir auch über Haut, Augen, Ohren und Nase ununterbrochen Sinneseindrücke auf. Unsere Sinnesorgane sind Tore zu unserer inneren Welt, und die Qualität dieser Eindrücke beeinflusst unser Inneres maßgeblich. Viele unserer Schüler:innen erhalten von Ergotherapeut:innen eine sogenannte sensorische Diät verschrieben.[8] Diese beschreibt die Menge an Sinnesreizen, die sie benötigen, um Emotionen, Aufmerksamkeit und Verhalten auszubalancieren, sodass sie ruhiger, aufmerksamer und organisierter sind und dadurch bereit zum Lernen. Idealerweise wird dabei nicht nur die Menge, sondern auch die Qualität der Sinneseindrücke berücksichtigt. Junge Menschen sind heute einer Flut von Reizen ausgesetzt, die oft schwer zu verarbeiten ist und ihre Sinne überfordert.
Ergotherapeut:innen betonen, dass eine wirksame sensorische Diät sich unauffällig in den Alltag integrieren sollte, statt zusätzliche Aufgaben zu schaffen. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse zeigen außerdem, dass zwar schon der Aufenthalt in der Natur wohltuend ist, dass aber eine aktive und sinnvolle Beschäftigung mit der Umgebung die Wirkung nochmals verstärkt.
An den Schulen und Colleges des Ruskin Mill Trust haben wir durch unseren Lehrplan und die natürliche Umgebung unzählige Möglichkeiten, diese Erkenntnisse in den täglichen Rhythmus einzuweben. Gesunde, biodynamische Ökosysteme wirken wie reich gefüllte Sinnesapotheken. Die Gartenbaukunst in Ruskin Mill – mit Gemüsegarten, Folientunneln und Feldern – ist ein eindrucksvolles Beispiel für ein reichhaltiges, vielschichtiges Fest der Sinne. Wir erleben dort das Berühren der Erde, das Arbeiten mit den Händen im Boden, das Halten von Pflanzen, Erzeugnissen und Werkzeugen. Wir riechen gemähtes Gras, Blüten, Feuer und Mist. Wir hören Vogelgesang, das Summen der Bienen, das Blöken der Schafe, den Regen und das Rascheln der Blätter. Wir sehen das Spiel von Licht und Schatten, die Farben frischer Triebe, reifender Früchte, die Vielfalt von Käfern, Schmetterlingen und Wetterstimmungen. Wir spüren die Wärme der Sonne, die Frische der Luft, das Gewicht einer Schubkarre und den Fluss von Wasser. All dies ist letztlich Ausdruck des lebendigen Kosmos.
Margaret Colquhoun, goetheanistische Wissenschaftlerin und Gründerin des Life Science Trust, der heute Teil von Ruskin Mill ist, vermutete, dass regelmäßige Arbeit mit der Erde unsere Wahrnehmungsfähigkeit vertieft. Dadurch können wir die Elemente bewusster erleben, im Einklang mit den Jahreszeiten leben und unsere innere Landschaft kann sich parallel zur äußeren entfalten.[9] Der jährliche Zyklus von Säen, Pflegen, Ernten, Verarbeiten und Saatgutgewinnen verbindet uns mit den Rhythmen der Natur und stärkt unser Gefühl für Zeit, Ordnung und Gleichgewicht. Indem wir die Erde bearbeiten, entwickeln wir zugleich ein Gefühl des Staunens und der Fähigkeit zu antworten, in Beziehung zu gehen.
Die Ethik des «Seed-to-Table» (vom Samen bis auf den Tisch), die deutlich macht, dass unsere Nahrung Teil eines lebendigen Kreislaufs ist und nicht tote Materie, spiegelt sich auch in meiner eigenen Arbeit wider. Ich arbeite mit meinen Schüler:innen auf dem Land, um Pflanzen für Farbstoffe anzubauen und daraus Färbebäder herzustellen. So verwandeln wir Wolle in eine Schatzkiste voller Farben.[10] Wir pflegen dabei eher eine Farbpalette als eine Geschmackspalette. Die Farben sind bioregional und lokal und spiegeln die Landschaft, die Ökologie und die Lebendigkeit des Ortes wider, aus dem sie hervorgegangen sind.
Der «Kessel der Verwandlung» brodelt, nicht um Nährstoffe, Vitamine oder Mineralien zu entziehen, sondern um Farben hervorzubringen, die in den Pflanzen verborgen sind und unsere inneren Landschaften in neuem Licht baden. Die Farben, die entstehen, bilden kein starres Spektrum einzelner Töne, sondern eine lebendige Symphonie mit unzähligen Abstufungen. Manche entsprechen den Farbtönen, die wir in der Landschaft sehen, wie das Goldgelb der Goldrute. Andere verwandeln sich überraschend. Ein tiefviolettes Färbebad aus den Beeren des Faulbaums ergibt grüne Wolle. Violette Irisblüten erzeugen zunächst Violett, das in Kontakt mit Kalziumkarbonat grün wird. Wolle, die aus einem Färbebad mit Färberwaid kommt, ist anfangs gelb und wird erst durch den Kontakt mit Luft blau. Die orangefarbenen Wurzeln des Färberkrapps ergeben Rosa-, Violett-, Braun- und Rottöne oder Orange, je nach Temperatur, Kochzeit oder Wasserquelle.
Vieles, was man kritisch über stark verarbeitete Fast-Food-Produkte sagen kann, gilt auch für synthetische Farben. Beide bringen eine Kette von Umweltproblemen, toxischen Belastungen, chronischen Krankheiten, Hormonstörungen, Atembeschwerden und Hautreaktionen mit sich. Die billigen Farbstoffe der fossilen Brennstoffindustrie haben komplexe chemische Profile, deren Stoffe über die Haut in den Körper gelangen können. Pflanzliche Farbstoffe hingegen besitzen oft medizinische Eigenschaften. Man könnte sagen, dass wir unsere Medizin tragen können. Samurai-Krieger wussten dies und trugen indigogefärbte Kleidung unter ihrer Rüstung, weil ihnen die antiseptische Wirkung des Indigos bekannt war.
Vor etwa sieben Jahren zeigte das Glasshouse College eine beeindruckende Ausstellung mit dem Titel «Experience Colour». Für jene, die sie verpasst haben, gibt es ein begleitendes Buch.[11] Darin beschreibt Liri Fillipini, damals Kunsttherapeutin am College, dass wir Farbe förmlich in uns aufnehmen können, sodass sie uns nährt und erfüllt. Besonders wertvoll finde ich ihre Darstellung der Farbe als etwas Flüssiges, als lebendigen Prozess, der durch die Sinne aufgenommen wird.
Die Erfahrungen dieser sinnlichen Reise in die Welt der Farben können wir wieder mit hinaus in die Natur nehmen. Dort finden wir die lebendigen Bilder der Jahreszeiten, die unsere Vorstellungskraft nähren. Die fließenden Prozesse der Farbentwicklung ermöglichen es uns, uns die inneren Eigenschaften der Pflanzen vorzustellen – jene verborgenen Schätze, die sich noch nicht im Sichtbaren zeigen. Vielleicht kann dieser Weg uns auch helfen, verborgene Schätze im anderen Menschen und in uns selbst zu finden.
Anna Willoughby, B.Sc Hons (Exon) Psychologie, M.St (Oxon) Sozialanthropologie, M.A (Manchester) Visuelle Anthropologie, Diplom Pädagogik (mit Auszeichnung). Dozentin für Wolle und Farbe und Master Practitioner für praktische therapeutische Bildung am Ruskin Mill College, Ruskin Mill Trust, Großbritannien. Nach vielen Jahren des Engagements in Umweltaktivismus, Interessenvertretung und Sozialforschung und einer intensiven Beschäftigung mit den Wundern und Geheimnissen der mehr-als-menschlichen Welt fand sie den Weg zur biodynamischen Ökologie am Ruskin Mill. Dies führte schließlich dazu, dass sie zur Handwerks- und Landlehrerin wurde, wo der Pflanzenfärbe-Workshop auf dem Prinzip «Field-to-Fibre» basiert. Als «Master Practitioner» der PSTE-Methode vermittelt sie Mitarbeitenden praktische Fähigkeiten, transformative Prozesse und therapeutische Möglichkeiten aus der Perspektive der Wollverarbeitung. Gemeinsam mit den Studierenden pflegt sie Gärten und Felder mit bioregionalen Färbepflanzen und entwickelt Farben, die den Jahreszeiten folgen und im Boden verwurzelt sind.
Anna.Willoughby@rmc.rmt.org
Ruskin Mill College, The Fisheries, Horsley, Gloucestershire GL6 0PL
Der Ruskin Mill Trust ist eine gemeinnützige Bildungseinrichtung in England, Schottland und Wales. Er schafft kraftvolle Lernumgebungen in der Natur, in denen praktische Tätigkeiten in Landwirtschaft und Handwerk jungen Menschen mit Autismus und anderen Lernschwierigkeiten helfen, Arbeits- und Lebenskompetenzen zu entwickeln. Die Methode der praktischen therapeutischen Bildung verbindet Impulse aus der Pädagogik Rudolf Steiners und seinem Verständnis der menschlichen Entwicklung mit den Ideen von John Ruskin und William Morris. Durch die Arbeit mit Händen, Kopf, Herz und Ort, durch praktische Tätigkeiten, darstellende Künste, Therapien, Kultur und soziales Unternehmertum unterstützt der Trust Menschen darin, ihr Potenzial neu zu entdecken.
[1] Imperatori, Claudio & Massullo, Chiara & De Rossi, Elena & Carbone, Giuseppe & Theodorou, Annalisa & Scopelliti, Massimiliano & Romano, Luciano & Del Gatto, Claudia & Allegrini, Giorgia & Panno, Angelo. (2023). Exposure to nature is associated with decreased functional connectivity within the distress network: A resting state EEG study. Frontiers in Psychology. 14. 10.3389/fpsyg.2023.1171215.
[2] Yao W., Zhang X., Gong Q. (2021). The effect of exposure to the natural environment on stress reduction: a meta-analysis. Urban For. Urban Green. 57
[3] Bowler D. E., Buyung-Ali L. M., Knight T. M., Pullin A. S. (2010). A systematic review of evidence for the added benefits to health of exposure to natural environments. BMC Public Health
[4] McDonnell AS, Strayer DL 2024) The influence of a walk in nature on human resting brain activity: a randomized controlled trial. Sci Rep. 2024
[5] McDonnell AS, Strayer DL. (2024) Immersion in nature enhances neural indices of executive attention. Sci Rep. 2024
[6] Sudimac, S., Sale, V. & Kuhn, S. (2022) How nature nurtures: Amygdala activity decreases as the result of a one-hour walk in nature
[7] Vermeesch AL, Ellsworth-Kopkowski A, Prather JG, Passel C, Rogers HH, Hansen MM (2024) Shinrin-Yoku (Forest Bathing): A Scoping Review of the Global Research on the Effects of Spending Time in Nature. Glob Adv Integr Med Health. 2024
[8]Magdalena Wójcik (2023) The Role of a Sensory Diet in Improving the Quality of Psychosocial Functioning of Students in Inclusive Education. Maria Curie-Skłodowska University
[9] Margaret Colquhoun, Healing Outer and Inner Landscapes. P193 in Richard Thornton smith (2009) Cosmos earth and nutrition. Sophia books
[10] Wicker, A. (2023). To dye for: How toxic fashion is making us sick--and how we can fight back. G.P. Putnam's Sons.
[11] Liri Filippini, The Therapeutic nature of colour. P255 in Troy Vine (ed.) (2018) Experience colour. An exhibition by Nora Löbe & Matthias Rang


