Die Ökonomie der Landwirtschaft ist unser aktuelles Jahresthema und aus der Beschäftigung damit entsteht die nächste Landwirtschaftliche Tagung 2019. Wenn man das Thema Wirtschaft in landwirtschaftlichen Kreisen und in gewissem Masse auch in der Ernährungsbranche anspricht, dann fällt man sehr schnell in den Modus des Klagens über die zu tiefen Preise und es entsteht eine Art Wettbewerb, mit welchen Tricks man am besten und am längsten überleben kann. Ich bin mir bewusst, dass auf vielen Höfen und an vielen Orten der Welt die Situation wirklich prekär ist und es schlicht ums Überleben geht. Trotzdem oder gerade deswegen sollten wir als biodynamische Bewegung eine Ebene des Verstehens und des Handelns suchen, die es ermöglicht, nicht nur den unmittelbaren Durst zu löschen, sondern auch die Quelle zu fassen und ein nachhaltiges und gerechtes Wirtschaftssystem aufzuziehen.
Vom verwirrenden Blick zur Assoziation
Zunächst ist der Blick ins Wirtschaftsleben verwirrend, weil die Werte und Preise irgendwie chaotisch sind. Nennen wir einige Beispiele: Auf unserem Hof führt der Weg auf die Weide über die Dorfstrasse. Kommen wir mit der Kuhherde, müssen die Autos warten. Ein Nachbar mit tollem Audi A8 ist in der Regel besonders ungeduldig. Bis die 25 Kühe vorbeigetrottet sind, ist er fast explodiert und sein Schnellstart, sobald die Strasse wieder frei ist, besagt: Ich habe keine Zeit für Folklore, denn ich bin mit ganz grossen Geschäften unterwegs. Tatsächlich ist es so, dass er wertmässig recht hat: Die 25 Kühe haben zusammen einen Bilanzwert von 50'000.- Franken, und sein Audi A8 ist da natürlich locker mehr wert. Wie kann es sein, dass eine ganze Kuhherde, die das Rückgrat eines biodynamischen Betriebes darstellt, weniger Wert ausweist als ein Serienauto, das man auf der ganzen Welt kaufen kann? Auf der anderen Seite bin ich erstaunt, dass der neue 4-Farben-Drucker fürs Büro nur soviel kostet wie zwei Laib Käse. Wieso hat ein so hochkomplexes Teil nur einen Preis von ein paar Litern verkäster Milch? Dann wiederum hört man, dass der Anteil der ganzen Landwirtschaft am BIP in Ländern wie der Schweiz oder Luxemburg unter einem Prozent ist. Wie bitte soll man das verstehen, da steht in ganz Europa das erntereife Getreide auf den Feldern und wenn das eingerechnet wird in die Volkswirtschaftsrechnung, ändert sich vor dem Komma gar nichts? Ein anderes Beispiel: Die Abrechnung der in der Schweiz landesgrössten Emmi-Molkerei für die Milchlieferanten ist so komplex, dass ein mittlerer Mathematikabschluss nötig ist, um zu verstehen, wie aus den dreifach multiplizierten Abzügen im Zehntelrappen-Bereich, plus differenzierten Zuschlägen, minus Abholkosten, Verbandsbeitrag und so weiter der eigentliche Milchpreis zu Stande kommt. Das Resultat: Der durchschnittliche Milchlieferant kennt den Preis nicht. Der Witz ist, dass es auch keine Rolle spielt, wenn seine Milch zum Beispiel zu Caffè Latte verarbeitet wird, denn im Verkaufspreis von 2 Franken pro Becher sind nur für 0.045 Franken (= 4,5 Rappen) Milch enthalten. Die Verwirrung wird komplett, wenn der gleiche Bauer am Ende des Jahres von Emmi, wo er über seine Genossenschaft Aktionär ist, noch eine satte Dividende bekommt, weil die Firma, die ihm teilweise gehört, einen guten Gewinn erwirtschaftet hat, notabene durch den tiefen Milchpreis.
Die Beispiele kann jeder aus seiner Erfahrung ergänzen: Es wird klar, es ist alles andere als einfach, das Wirtschaftsleben zu durchschauen. Dies schulden wir nicht unserem einfachen Bauernverstand, sondern es geht allen so. Die Interaktionen sind so mannigfaltig und vielschichtig, dass es der gemeinsamen Urteilsbildung vieler Akteure bedarf, um die Wirtschaft einigermassen steuern zu können. Rudolf Steiner hat solche Plattformen gefordert und sie Assoziationen genannt. Es geht um ein ständiges Beobachten und Justieren des flukturierenden Wirtschaftsgeschehens. Assoziation ist dabei nicht eine fixe soziale Form, sondern eher ein Prinzip, das ganz verschieden realisiert werden kann, klein oder gross, für ein Produkt oder ganze Branchen, für Konsumgüter oder für Investitionsgüter etc. Wichtig ist, den Blick des Einzelunternehmens in den Gesamtblick einzubringen, neben der Produktion und dem Handel den Konsum als Regulativ zu verstehen und zu akzeptieren und das Wirtschaftsleben als ein Teil und nicht als das Ganze des sozialen Lebens zu verstehen.
Landwirtschaft und Kapitalwirtschaft
Im nationalökonomischen Kurs von 1922 hat Rudolf Steiner die Wirtschaftsfragen allgemein behandelt und eher im Stile einer wissenschaftlichen Herangehensweise. Dabei kommt er zu weitreichenden Einsichten und Schlussfolgerungen, die aufregend sind, weil er konsequent die geistigen Fähigkeiten des Menschen und die geistige Dimension der Welt berücksichtigt. Die Realität des Geistes führt ihn nicht aus der Wirtschaft heraus sondern viel realer in eine Wirtschaft, die gerade die materielle Seite ihrer Selbst – Boden, Kapital und Produktionsmittel – neu versteht und handhabt.
Gerade zu Anfang seiner Ausführungen setzt Steiner ein Axiom, das direkt mit der Landwirtschaft zu tun hat. Er entwickelt, dass es zwei Arten der wirtschaftlichen Wertbildung gibt:
1. Arbeit wird auf Natur angewendet. W1 = Arbeit auf Natur. Damit ist gesagt, dass Bearbeitung der Natur in Richtung von Bedürfnissen erst einen wirtschaftlichen Wert schafft. Die Natur selber gehört nicht zur Wirtschaft, erst die bearbeitete Natur. An diesem Punkt nun steht die Landwirtschaft im Wirtschaftsleben, sie bearbeitet unmittelbar die Natur. Der Umgang mit Boden, Pflanzen und Tieren ist gerade anfängliches Wirtschaftsleben.
2. Geist wird auf Arbeit angewendet. W2 = Geist auf Arbeit. Damit ist die Organisation der Arbeit gemeint. Beispiel: Anstatt dass jeder selber zur Arbeit geht, sammelt einer die Kollegen mit dem Fuhrwerk ein. Unter dem Strich ist es für alle vorteilhaft und weitergedacht wird der eine zum Verkehrsunternehmer und die anderen zu Pendlern. Der Geist der Moderne hatte und hat sich aller traditionellen und religiösen Normen entledigt und das Arbeitsleben rein nach Rationalität organisiert. Es entstand die Industrie, in der wir ja gerade in der vierten industriellen Revolution stecken, am Übergang von der Digitalisierung zur Robotik. In und durch diese arbeitsteilige Wirtschaft entsteht Kapital.
Wir kommen also zu einem Gegensatz oder einer Polarität von Landwirtschaft und Industrie. Die Landwirtschaft fusst auf der Natur, die Industrie führt zum Kapital. Das ist nicht moralisch zu verstehen. Es gibt einfach beides. Die Frage ist nur, wie jetzt das Wirtschaftsleben funktionieren kann, ohne dass die Industrie die Landwirtschaft vollständig verdrängt, beziehungsweise die Landwirtschaft vollständig industrialisiert wird. Man kann sich ebenso fragen, wieso das nicht so sein soll? Was gibt es für Gründe, die Landwirtschaft nicht der vollen Durchrationalisierung zu unterwerfen? Die Frage kann man nicht im Kopf beantworten, man muss in die Realität schauen. Dann sieht man, dass es einfach nicht geht. Einerseits wird die Naturgrundlage zerstört – als Beispiel erinnere ich an die apokalyptischen Bilder vom vollständig ausgetrockneten Aralsee, die jetzt gerade wieder um die Welt gehen. Diese Zerstörung ist die Folge von planwirtschaftlicher Baumwollproduktion, also von industrieller Landwirtschaft. Andererseits klappt die Ernährung nicht – Industriefood führt zum Beispiel zu Fettleibigkeit, unter der schon rund 1 Milliarde Menschen leiden.
Assoziative Zonen
Der Landwirtschaft ist also gut beraten, die Natur, auf der sie fusst, soweit zu pflegen, dass dauerhaft ein Mehrwert geschaffen werden kann. Und sie ist gut beraten, möglichst Nahrungsmittel zu erzeugen, die gut verdaut werden können. Diese zwei Vorgaben, die einfach auch wirtschaftlich vernünftige Vorgaben sind, kann sie gut erreichen, wenn sie sich so organisiert, dass sie produktive Einheiten bildet, die aus sich heraus in vernünftigem Mass Produkte in Qualität und Quantität in die Gesellschaft abgeben können. Eine solche produktiven Einheit nennen wir den landwirtschaftlichen Organismus. Er ist eben nach Einsicht und Erfahrung ein Organismus und nicht ein Mechanismus. Und diese Art des Produzierens – die nur graduell nach rationellen Maximen organisiert ist – fordert und fördert eine entsprechende Wirtschaft beim Übergang ihrer Produkte in den Wirtschaftskreislauf. Sie kann nicht existieren, wenn sie dazu verdammt wird, anonyme Rohstoffe für die Terminbörsen zu produzieren. Sie braucht - sei sie gross oder klein, seien ihre Produkte Nahrungsmittel oder Textilfasern, sei sie mit viel Kapital ausgestattet wie im Norden oder fast kapitallos wie im globalen Süden – eine assoziative Wirtschaft, die ihr entgegenkommt. Gleichzeitig fördert sie diese Art des Wirtschaftens, weil sie für alle Wirtschaftspartner die Naturgrundlage in die Anschauung und wirtschaftliche Tatsächlichkeit, das heisst in die Preisbildung, bringt. Diese willentliche Herausbildung von respektierenden Wirtschaftsräumen um einen Hof oder für eine ganze Region haben wir assoziative Zonen genannt. Damit ist gesagt, dass wir in die Wüste der Marktwirtschaft, in der wir ja alle leben, Schutzzonen für ein neues, ein assoziatives Wirtschaften hineinbauen wollen und können. Die Landwirtschaftliche Tagung soll von solchen inspirierenden Beispielen ein reichhaltiges Bild vermitteln und Mut geben, die zarten Keime zu pflegen und zu vermehren.
Die Landwirtschaft als Ferment für eine menschliche Wirtschaft
Gegen Ende des nationalökonomischen Kurses im 13. und 14. Vortrag stellt Steiner die Frage, wie eigentlich die Wertbildung der «geistigen Arbeiter», Lehrer, Pfarrer, Beamte usw. wirtschaftlich in ein Verhältnis treten kann zur bäuerlichen Arbeit, von der ja alle ernährt werden. Wie viele Pfarrer, Lehrer, Maler, Spekulanten und so weiter können eigentlich in einer Wirtschaft leben bevor diese kippt? Die Antwort ist relativ einfach: Es müssen alle zu essen haben und diese Nahrung kommt vom Boden. Das heisst, die Summe aller Werte einer Wirtschaft muss sich auf den fruchtbaren Boden beziehen, nach der Formel: Fläche einer Wirtschaft geteilt durch die Anzahl Menschen. Weltwirtschaftlich gesprochen: Die Summe des bearbeiteten Landwirtschaftslandes durch die Anzahl aller Menschen auf der Erde. Der Produktionswert einer solchen Durchschnittsfläche pro Person kann ermittelt werden. Für einen Hof sind die Zahlen greifbar, für die meisten Volkswirtschaften auch, für die Weltwirtschaft kann man schätzen. Diese Zahl, zum Beispiel 5'000.- Franken landwirtschaftlicher Rohertrag pro Hektar für die Schweiz, ist das Mass für alle anderen wirtschaftlichen Werte. Wenn der gesamte wirtschaftliche Wert einer Wirtschaft vollständig die Relation verliert zu diesem Grundmass, dann kommt sie als Ganzes in eine Unterbilanzierung hinein, sie verbraucht Werte, die sie eigentlich nicht hat. Man kann auch sagen, diese Wirtschaft macht Schulden. Oder: Sie ist nicht nachhaltig. Die heutige Wirtschaft hat diese Schwäche, sie ist nicht nachhaltig, geschweige denn zukunftsstiftend. Am deutlichsten spürt man das am Raubbau, den sie an der Natur betreibt. Über diesen ökologisch riesigen Fussabdruck wissen wir viel, er ist gut dokumentiert. Der Raubbau wird aber auch sozial begangen, und auch kulturell und geistig und in vielen Dimensionen, nur ist er da weniger gut dokumentiert. Die ökologische Dimension geht uns besonders an, denn gerade an der Nahtstelle von Wirtschaft und Natur ist ja die Landwirtschaft tätig. Ich glaube, dass dies der Grund ist, wieso heute eine Art Hypersensibilität in Bezug auf die Landwirtschaft und die Ernährung herrscht. In der Schweiz haben wir aktuell fünf Volksinitiativen hängig, über die wir alle abstimmen müssen: Die Fair Food Initiative, die Trinkwasserinitiative, die Pestizid-Verbotsinitiative, die Ernährungssouveränitätsinitiative, die Hornkuhinitiative ... Viele gesellschaftliche Fragen hängen irgendwie mit der Landwirtschaft zusammen, und die armen Bauern, die brav ihr Kühe melken und ihr Heu machen, verstehen gar nicht mehr, was da eigentlich los ist.
Ja, was ist da eigentlich los, wieso wollen so viele gesellschaftliche Gruppierungen die Landwirtschaft in die eine oder andere Richtung ziehen? Meiner Meinung nach geht es nicht um die Landwirtschaft im engeren Sinne: Viele Menschen spüren heute, dass unsere Werte, insbesondere die wirtschaftlichen Werte, hohl sind, sinnlos sind. Und dieses ungute Lebensgefühl, das eben gar nicht so sehr eine klare Erkenntnis ist – und jeder von uns steckt ja auch jeden Tag bis über beide Ohren in der Mühle der wirtschaftlichen Notwendigkeiten – findet eine Art Projektionsfläche in der Landwirtschaft. Wir spüren, dass die Landwirte eine Art Hüter-Funktion haben im Verhältnis zur Natur, zur Schöpfung oder einfach zu der Dimension des Seins, die nicht in unserer vollen Verfügung steht. Es ist eine Sorge und Sehnsucht nach dem Unverfügbaren, die uns innerlich bewegt. Und diese Empfindung ist nicht falsch, sie ist als Empfindung sogar sehr richtig. Ins Gedankliche übersetzt könnte man einfach formulieren: Das Leben soll nicht der Wirtschaft gehören, sondern die Wirtschaft soll dem Leben dienen.
Aus dieser Perspektive ist die Landwirtschaft nicht das Opfer der durchrationalisierten Wirtschaft, die kläglich versucht um ihr Überleben zu kämpfen - und doch immer mehr marginalisiert wird. Sondern sie ist der sensible gesellschaftliche Ort, wo das Ungleichgewicht spürbar wird, das eine usurpierende Wirtschaft dem ganzen gesellschaftlichen Leben aufdrückt. Sie ist nicht Opfer, sondern offeriert die Möglichkeit der Selbstbesinnung und des Umdenkens. Vielleicht vergleichbar der Tragödie in der griechischen Polis. Die Landwirtschaft hält uns als Gesellschaft im Zeichen des Homo oeconomicus einen Spiegel vor, in den wir voll Faszination mit einer Mischung aus Selbstbewunderung und Abscheu vor uns selbst blicken. Wie können wir einen Weg finden zwischen der verlorenen Unschuld als Naturwesen und der Hybris der Selbst- und Weltzerstörung durch die Gewinn-Sucht?
Die Agrikultur kommt hier als eine Haltung in den Blick, die nicht neu ist, aber in jeder Epoche der Erneuerung bedarf. Und wir gewinnen hier einen Gesichtspunkt, an dem sich diese Kultivierung einerseits in Richtung der Natur betätigt und andererseits auch in Richtung des sozialen Organismus mit einem wirtschaftlichen Verhalten, das nicht usurpiert, sondern kultiviert. In diesem Sinne darf die assoziative Wirtschaft – und andere wirtschaftliche Ansätze, die in diese Richtung gehen – als die Möglichkeit gesehen werden, die Mass und Sinn hineinbringen kann in unser wirtschaftliches Tun. Und dieses umsichtige, den Gesamtzusammenhang berücksichtigende Wirtschaften hat eben in der Landwirtschaft einen besonders günstigen Boden, um zu gedeihen. Rudolf Steiner stipuliert dies, indem er fordert, dass die ganze Wertbildung in der Wirtschaft sich auf die Ertragskraft des Bodens bezieht.
Falls die hier formulierten Gedanken einer Schicht der gesellschaftlichen Realität entsprechen, wirft das ein Licht auf unser Thema, das wir umso mehr in der Tagung herausarbeiten könnten: Ökonomie der Landwirtschaft wäre eine Art Fokus für ein menschliches Wirtschaften überhaupt, und wir haben nicht nur zu klagen und Preise einzufordern, sondern wir haben etwas zu entwickeln und zu geben, das wie ein Ferment für die ganze Gesellschaft und Wirtschaft kultivierend wirken könnte.
Ueli Hurter