Die Bedeutung der Rebe für die Menschheit, das Interesse von Winzern am biologisch-dynamischen Anbau und das Verhältnis zum Alkohol erläutern Jean-Michel Florin und Ueli Hurter von der Leitung der Sektion für Landwirtschaft in "Anthroposophie weltweit" Nr. 12/2012 (hier folgt ein Vorabdruck).
Sebastian Jüngel: Wie geht es den Reben?
Jean-Michel Florin: Nicht gut. Um das zu verstehen, muss man wissen, dass die wilde Rebe ursprünglich am Waldrand, im Halbschatten und auf Humusboden wächst. Als Kulturpflanze ist ihre Höhe auf ein, zwei Meter Wuchshöhe begrenzt, sie steht voll im Licht und wird oft auf kargen Hängen angepflanzt. Die wilde Rebe kennt zudem als Milieu eine hohe Diversität an Pflanzen und Tieren, als Kulturpflanze wird sie in Monokultur angebaut. Bei den Griechen und Römern wurden Reben noch mit Olivenbäumen und Getreide angepflanzt; sie konnten – wie heute noch in Portugal – an Bäumen hochranken. Mitte des 19. Jahrhunderts war die Kulturrebe so geschwächt, dass die Reblaus praktisch alle Rebanlagen in Europa dezimierte, indem sie die Wurzeln angriff. Daraufhin wurden sogenannte Unterlagen aus den USA gepflanzt und Sorten von der Art Vitis vinifera aufgepfropft. Dadurch entstand ein Grundkonflikt: Die Unterlagenpflanze hat viel mehr vitale Kraft als die aufgepfropfte Pflanze – neue Krankheiten waren die Folge, vor allem Pilze und Holzschädigungen. Die Folge: Man setzte Kupfer und Schwefel, seit dem Zweiten Weltkrieg auch synthetische Pestizide ein. Obstbäume und Reben zählen ja zu den am meisten belasteten Pflanzen, weit vor Getreide oder Mais.
Jüngel: Was ist an der Rebe besonders?
Florin: Rudolf Steiner wies in den Arbeitervorträgen darauf hin, dass in der Landschaft Walnuss- und Lindenbäume auf den astralischen Leib und Weinreben auf das Ich wirken (GA 353, S. 17f.). So hat eine Pflanze eine wichtige Aufgabe als Ausgleich. Nehmen wir die Rebe als Bild, so sehen wir, wie sie nach oben wachsen will, es aber von allein nicht schafft; daher muss man ihr helfen. Viele homöopathische und anthroposophische Heilmittel werden aus Wein, Weingeist, Weinstein oder Weinessig hergestellt, darunter Hepatodoron (ausführlich in: "Der Merkurstab" Nr. 2/2010, S. 112–122). Der Zucker der Rebe wärmt und ihre Vitalitätskräfte regen an.
Jüngel: Welche Bedeutung für die Menschheit hat die Rebe gegenüber Getreide?
Ueli Hurter: Wir kennen Brot und Wein ja als die Substanzen des Abendmahles. Wein steht in einem Zusammenhang zum Dionysischen, Getreide zum Apollinischen. Das Korn ist eine hochverdichtete Substanz mit der Gefahr, sich zu sehr zu verdichten, sodass das Apollinische ins Ahrimanische übergehen kann (Steine statt Brot). Die Traube ist eine Frucht mit der Gefahr, dass ihre Erscheinung übertrieben wird, Aroma, Formkraft und Farbe vortäuscht, die gar nicht real sind – eine luziferische Tendenz. Beim Getreide gibt es die Aufgabe, züchterisch, beim Anbau und bei der Aufbereitung durch das Backen Lichtqualität hineinzubringen; bei der Frucht geht es um "Verwesentlichung".
Florin: Gegenüber der Lilie mit ihrem Bezug zum Kosmischen, an die das Getreide mit der Geste der ganz der Sonne hingegebenen Ähren anschließt, weist die Geste bei wässrigen Früchten (Rosengewächse und Trauben) von der Erde nach oben: Das Irdische möchte den Himmel erreichen. Die Rebe hat eine starke Beziehung zum lokalen Boden, die man in einem Produkt wie Wein riechen, sehen und schmecken kann. Ein Feinschmecker vermag Ort, Hang und Jahr herauszuschmecken, beispielsweise "Kalkboden, Südwesthang, 2006". Diese Differenzierung von der irdischen Seite her ist bei Getreide nicht so stark.
Jüngel: Was macht das Rebenprodukt Wein gegenüber Weintrauben beziehungsweise Traubensaft attraktiver?
Hurter: Die Wertschöpfung einer Flasche Wein ist einfach höher als die einer Flasche Saft oder bei der Frucht. Außerdem kommt die Qualität in Sorte, Ort und Jahrgang erst in der Vergärung richtig zum Ausdruck. Traubensaft ist für ein Getränk tendenziell zu süß; bei Apfelsaft ist das Zucker-Säure-Verhältnis besser.
Florin: Dabei ist zu bedenken, dass bei einem Wert eines Hektars Rebanlage von einer Million Euro (in der Champagne) der Ertrag bei einer Nutzung als Wiese von vielleicht 1000 Euro eine viel zu geringe Wertschöpfung darstellt.
Jüngel: Wein (und damit Alkohol) in Demeter-Qualität wird ja immer wieder mit Hinweis auf die Freiheit bei der Anwendung der biologisch-dynamischen Methode "gerechtfertigt". Wie sähe es mit Kokain und anderen Drogen in biologisch-dynamischer Qualität aus?
Hurter: Wir bewegen uns im gesetzlichen Rahmen. Daher ist Kokain nicht möglich, Tabak wäre es. Zurzeit diskutiert die Demeter-Bewegung, wie sie mit Whisky umgehen soll (während der erste Demeter-Weizen in schottischen Fässern zu Whisky heranreift). Dabei ist Folgendes zu unterscheiden: Die Sektion für Landwirtschaft stellt Erkenntnisgrundlagen zur Verfügung, die Demeter-Bewegung entscheidet gemäß Anfragen und Bedürfnissen. In Großbritannien beispielsweise ist ein Glas Whisky kulturell verankert. Wenn nun Menschen Demeter-Whisky trinken wollen, ist das vielleicht immer noch besser, als wenn er nicht auf biologisch-dynamischen Anbau zurückgeht. Ein anderes Beispiel: Es gibt viele Mütter, die nicht stillen können oder wollen und daher eine Zusatznahrung für ihr Kind brauchen. Diese ist hochgradig verarbeitet und muss aufgrund gesetzlicher Vorschriften mit Vitaminen versetzt werden (das Ergebnis hat mit Milch nicht mehr viel zu tun). Demeter International findet diese Situation nicht ideal, aber empfindet es immer noch als besser, dass ein Kind eine Ersatznahrung in Demeter-Qualität bekommt als eine andere. Wir stehen also als biologisch-dynamische Bewegung mitten in der Welt. Bei der Rebe ist es so, dass die Winzer auf uns zukommen.
Florin: Man muss auch wissen, dass heute einige der berühmtesten Winzer der Welt biologisch-dynamisch arbeiten, was in der Öffentlichkeit eine gute Anerkennung für die biologisch-dynamischen Maßnahmen geschaffen hat. Auch angesichts der großen Umweltbelastung durch den konventionellen Weinbau sind wir froh, wenn ein Winzer auf biologisch-dynamisch umstellt und so der Erde hilft und wieder Lebensraum für alle Pflanzen, Tiere und Menschen schafft.
Hurter: Auch ich sehe in der Monokultur der Rebe heute das größere Problem als im Alkohol. Denn die Rebanlage stellt keinen ganzheitlich angelegten Hoforganismus dar. Hier und hinsichtlich der Anwendung der biologisch-dynamischen Präparate Anregungen zu geben, ist Anliegen unserer Tagung. Und vergessen Sie nicht: Die Hinweise Steiners zum Alkohol beziehen sich auf Menschen, die bewusst einen Schulungsweg einschlagen; für die Menschen draußen ist das nicht im selben Maße relevant. Bei Demeter International kommen wir mehr und mehr zu dem Schluss, dass die Ernährung immer individueller wird und der Einzelne selbst entscheiden muss.
Florin: Auch gibt es ja Alkohol natürlicherweise auch im Magen, in Säften und als Konservierungsmittel in anthroposophischen Heilmitteln. Ich will dadurch die Problematik des Alkoholkonsums nicht vermindern. Wir haben mit der Aufklärungsarbeit eine wichtige Aufgabe zu leisten, nämlich ganz genau zu beschreiben, was die Wirkung des Alkohols ist, der direkt in das Blut geht, so das Ich schwâchen kann, und sicher kein Nahrungsmittel ist, wohl aber beispielsweise als Wein ein Genussmittel darstellt. Doch was mir wichtiger zu sein scheint: Jean-Pierre Frick sieht die Bedeutung des Weines nicht so sehr als Getränk, sondern als ein Gewürz zum Üben der Sinne. So kann man ohne Weiteres degoustieren, ohne Wein zu trinken. Je feiner der Wein in seiner geschmacklichen Qualität, umso feiner die Möglichkeit, die Sinne zu schulen. Wenn dann diese Fähigkeit auch auf "richtige" Lebensmittel anwendet wird, hätten wir einen großen Gewinn beispielsweise für Brot und Käse. Ich sehe ein Problem darin, dass auch Demeter-Produkte oft einfach nur gegessen werden, statt bewusst aufgenommen zu werden. Wein kann uns also helfen, die sinnliche Erfahrung zu vertiefen.