Erstmals wurde dieser Nutri Score 2017 in Frankreich eingeführt, weil man Verbrauchern eine leicht erkennbare Auszeichnung anbieten wollte, um gesunde Lebensmittel identifizieren zu können. Der Hintergrund ist, dass ernährungsbedingte Krankheiten wie Adipositas (Fettleibigkeit) und in der Folge Diabetes und koronare Herz-Kreislauferkrankungen sehr verbreitet sind. Die Ernährung ist also nicht gesund oder hält die Menschen nicht gesund. Die Ampel soll Abhilfe schaffen und eine schnelle Hilfe beim Einkauf von Produkten mit guter Nährwertzusammensetzung bieten. In der Schweiz sind seit März 2019 einige Produkte mit der Lebensmittelampel auf der Vorderseite der Verpackung gekennzeichnet. In Deutschland soll die Kennzeichnung zum 01.11.2020 eingeführt werden, die Weichen dazu wurden gerade im Bundesrat gestellt.
Für Hersteller ist Verwendung des Nutri Scores freiwillig, sie müssen sich lediglich anmelden und dann verpflichten, alle Produkte der entsprechenden Marke auszuzeichnen. So soll vermieden werden, dass jeweils nur die mit dunkelgrünem A gekennzeichneten Produkte die Ampel tragen. Eine generelle Verpflichtung, den Nutri Score anzuwenden, gibt es mangels einer EU-Vorschrift nicht. Produkthersteller, die sich ein rotes E beispielsweise für ihre Fertiggerichte berechnet haben, werden kaum teilnehmen. Allerdings wird erwartet, dass der Lebensmitteleinzelhandel für die Produkte seiner Eigenmarken die Ampel anwendet.
Die Ampel soll die Vergleichbarkeit von verarbeiteten Produkten innerhalb einer Kategorie ermöglichen. So kann man Fertigpizza mit Fertigpizza vergleichen, aber nicht Linseneintopf mit Orangensaft, obwohl beide eine Ampel auf der Verpackung haben. Je grüner die Ampel, desto höher die Nährwertqualität. Wasser bekommt ein dunkelgrünes A und ist ein Sonderfall, aber eben in der Kategorie Getränke die beste Alternative. Für die Berechnung des Scores werden Ballaststoffe, Proteine, Obst, Gemüse und Nüsse positiv verrechnet, Salz, Zucker, Energiegehalt (Kalorien) und gesättigte Fettsäuren hingegen negativ. Jeder Lebensmittelhersteller, der Produkte auszeichnen will, ermittelt den entsprechenden Score mittels eines Algorithmus selbst. Das Ergebnis wird von keiner Stelle überprüft. Die Verbraucher müssen also Vertrauen haben, dass schon alles richtig berechnet wird. Ob Vertrauen in die Lebensmittelindustrie allerdings gerechtfertigt ist, wo es doch um Gewinnmaximierung geht und die Gesundheit und gesunde Ernährung der Bevölkerung mitnichten ein Unternehmensziel darstellt, darf in Frage gestellt werden. Erreicht zum Beispiel ein Produkt ein grünes A, weil es wertvolle, teure Nüsse enthält, kann die Rezeptur so lange variiert werden, wie sie gerade noch ein grünes A bekommt, aber der Anteil teurer Nüsse auf das Minimum reduziert wird.
Die Behörden machen glauben, dass der Nutri Score ein Anreiz für Lebensmittelhersteller ist, gesundheitlich ausgewogene Produkte zu entwickeln, denn wer will schon ein rotes E tragen. Coca Cola zeigt, dass dieser Anreiz nicht funktioniert, denn die Limonade würde ein rotes E erhalten, soll aber in der Rezeptur nicht verändert werden, weil sie gerade so, wie sie seit Jahrzehnten und an allen Orten der Erde geschätzt wird, bleiben soll. Also wird auf die Ampel verzichtet. Obwohl der Soft Drink Verbrauch bei Kindern maßgeblich zu deren Übergewicht beiträgt. Wäre es hier nicht angebracht, den sogenannten gesundheitlichen Wert erkennbar zu machen?
Eine Autorität, die hier die Ernährungsindustrie ist, zeigt also dem ungebildeten zu dicken Verbraucher was gesund ist und was er unbedenklich essen kann. Tatsächlich hat die Gesellschaft ein Problem, weil immer mehr Menschen an ernährungsbedingten Krankheiten leiden, eine nachhaltige Lösung ist der Nutri Score aber nicht. Er schafft nur Abhängigkeiten. Wenn einem alles, worum man sich bemühen muss, abgenommen wird, weil es schon entschieden und einfach aufbereitet ist, werden man nicht angeregt, sondern träge. In der Pädagogik ist das klare Konzept, das Kind macht seine Erfahrungen selbst und entwickelt sich dadurch. Widerstand macht stark, wenn ich mich um eine Entscheidung bemühen muss, mache ich eine Erfahrung. Erfolgreiche Projekte in sozialen Zusammenhängen oder in der Entwicklungshilfe zeichnen sich dadurch aus, dass die Menschen befähigt und nicht bevormundet werden. Vielerorts wird derzeit für Eigenverantwortung und Entscheidungsbefugnis demonstriert. Genau das wird aber durch die Lebensmittelampel nicht unterstützt. Die Verantwortung für die eigene gesunde Ernährung wird abgegeben und man wird immer weniger entscheidungsfähig. Die Beziehung zum Lebensmittel, die sowieso schon arm geworden ist, wird weiter entfremdet, weil sehr stark vereinfacht ein gut oder schlecht in grün oder rot auf der Packungsvorderseite aufgedruckt ist.
Dem Verbraucher soll ermöglicht werden, eine gesündere Auswahl zu treffen. Es schlagen aber Lebensmittelzusatzstoffe (Süßungs- bzw Konservierungsmittel, Farbstoffe), Aromen und Geschmacksverstärker nicht negativ zu Buche, auch Vitamine, Mineralstoffe und sekundäre Pflanzeninhaltsstoffe, die ja nun als gesundheitsfördernd gelten, werden nicht auf der positiven Seite angerechnet. Olivenöl zum Beispiel, das für eine gesunde Ernährung so wichtig ist, erhält ein orangefarbenes D und wäre plötzlich nicht mehr so günstig zu bewerten.
Die ökologische Erzeugung und Verarbeitung spielen ebenso wenig eine Rolle wie die regionale Herkunft. Dabei wissen wir schon längst, dass gesunde Lebensmittel nur auf einem gesunden Boden wachsen können. Außerdem gibt es wissenschaftliche Untersuchungen, die zeigen, dass ökologische Lebensmittel gesünder sind. Obst und Gemüse, die die Basis einer gesunden Ernährung darstellen, bekommen keinen Nutri Score. Es werden nicht gesunde Lebensmittel ausgezeichnet, sondern es wird eine Nährstoffzusammensetzung als gut oder schlecht für die Gesundheit bewertet. Dass Nährstoffe nur eine Seite der Medaille sind, ist leicht zu erkennen, wenn man die Inhaltsstoffe eines Apfels zusammenrühren würde, aber niemals einen Apfel erhält. Wir essen neben den Inhaltsstoffen auch die lebendigen Kräfte, die den Apfel wachsen und reifen lassen, wir essen seine Biographie und freuen uns am knackigen Biss.
Ernährung wird im Konzept des Nutri Socres auf die Nahrungsaufnahme reduziert und Aspekte wie Genuss, Zubereitung und Tischgemeinschaft werden nicht berücksichtigt. Der Umgang mit frischen Lebensmitteln und das Kochen stellen in diesem System keinen Wert dar. Im Gegenteil, die Ampel eignet sich am besten für Fertiggerichte und für verarbeitete Produkte, die aus mehreren Zutaten bestehen. Doch gerade die frisch gekochte Mahlzeit, schön präsentiert und in Gemeinschaft verzehrt, ist ein wichtiger Faktor für die gesunde Ernährung. Das Problem der Fehlernährung wird nicht an der Ursache angegangen.
Gesund hält uns ein selbstbestimmtes, abwechslungsreiches Leben. Seine Komplexität und Vielfalt bieten reiche Anregung und Erfahrungsfelder. Jede Vereinfachung hingegen lässt uns abstumpfen. Ein Ansatz für eine gesunde Ernährung muss darin liegen, die Menschen zu befähigen, die für sie bekömmlichen Lebensmittel zu erkennen und ihre Diät selbst zu bestimmen. Methoden wie «achtsames Essen» oder «intuitives Essen (Mindful Eating) sind dafür gut geeignet und verzeichnen auch in der Ernährungstherapie nachhaltige Fortschritte für die Patienten. Sie basieren darauf, dass durch bewusste Wahrnehmung (Aussehen, Geruch, Geschmack, Bekömmlichkeit) eine Beziehung zum Selbst und zum Lebensmittel aufgebaut wird. In der Frage der Beziehungen liegt ein großes Potential zur Lösung des Problems der Entfremdung. Kinder wissen nicht mehr, wie eine Möhre aussieht und dass eine Henne, die Eier legt, auch einen Bruder hat. Dafür braucht es Ernährungsbildung, und schon Kinder sollten kochen lernen, sie sollten die natürlichen Lebensmittel mit ihren Farben und Aromen kennen lernen. Das wäre ein nachhaltiger Beitrag zur eigenständigen Gestaltung des Lebens ohne Bevormundung und schon gar nicht von einer Industrie, die nicht der Gesundheit von Mensch und Erde dient.